Welten konstruieren, die für alle gangbar sind

Ein Interview mit Ernst von Glasersfeld über Schuhe, Stadtpläne und Regenbogen

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Ernst von Glasersfeld ist, zusammen etwa mit Heinz von Foerster oder Paul Watzlawick, einer der Begründer der philosophischen Richtung des Radikalen Konstruktivismus. Er ist Professor emiritus für Psychologie an der University of Georgia, Research Associate am Scientific Reasoning Research Institute und Professor für Psychologie an der University of Massachusetts, Amherst.

Blindflug des Geistes

Herr von Glasersfeld, Sie gelten als der Stichwortgeber des Radikalen Konstruktivismus (RK). Können Sie uns zu Beginn kurz erläutern, wie sich Ihr Konzept von anderen operativen Konstruktivismen (Niklas Luhmann, Heinz von Foerster) unterscheidet?

Ernst von Glasersfeld: Luhmann kenne ich zu wenig. Er hat mit der Systemtheorie gearbeitet. Sein Konstruktivismus muß anders sein, denn er war, obwohl er mich hie und da zitiert hat, mit meinem Konstruktivismus nicht ganz einverstanden. Gewisse Dinge passen wohl nicht zueinander. Neulich hat mir jemand erzählt, Luhmann hätte gesagt, wir hätten uns nicht genug mit den ontologischen Voraussetzungen befaßt. Der Radikale Konstruktivismus (RK) ist ein Versuch, eine Wissenstheorie ohne Bezug auf Ontologie aufzubauen. Luhmann scheint anzunehmen, daß man das nicht machen kann.

Mit Heinz von Foerster bin ich dagegen zu 95 Prozent einverstanden. Es gibt da sehr wenig Unterschiede. Auch mit Maturana bin ich in vielen Punkten einer Meinung. Allerdings sind da gewisse Gebiete, wo ich ihn noch nicht verstanden habe. An und für sich einverstanden bin ich auch mit dem, was Kenneth Gergen in den Vereinigten Staaten "social constructionism" genannt hat. Verfehlt scheint mir daran aber die Tatsache, daß er die Gesellschaft und die Sprache als Voraussetzungen nimmt, um die kognitive Entwicklung des Kindes zu beschreiben.

Charakteristisch für den Radikalen Konstruktivismus ist die Annahme, daß statt der Korrespondenz mit der Realität und der Wahrheit als Bild der Realität der Begriff der "Viabilität", auf deutsch etwa "Gangbarkeit", eingeführt wird. Damit fällt der Begriff der absoluten Wahrheit. Diese wissenstheoretische Umstellung ist sehr schwierig. Vollzieht man diese Wendung, so muß man so ziemlich alles, was man vorher gedacht hat, umdenken. Vielen ist das unsympathisch. Sie haben Angst davor. Ich verstehe das sehr gut. Als ich mich mit Piaget zu befassen anfing und Piaget auch in den Staaten zu lehren begann — das war die Zeit als er zum zweiten Mal populär und prompt mißverstanden wurde — sagten plötzlich alle Leute: Natürlich, auch wir sind Konstruktivisten. Kleine Kinder können sich das Wissen der Erwachsenen nicht in einem Stück aneignen. Sie müssen sich die Welt erst konstruieren. Die Leser von Piaget jedoch betrachteten ihn immer noch oder nur als Kinderpsychologen. Was er über das Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit oder von Wissen und Realität sagt, haben sie nicht angenommen. Piaget sagt aber immer wieder: Die Vorstellungen, die wir uns über die Welt machen, können keine Repräsentation der Realität sein. Deswegen habe ich meinen Konstruktivismus "radikal" genannt.

Könnten Sie diesen Begriff der "Viabilität", der, wenn ich richtig sehe, an die Stelle des Sehens der Außenwelt tritt, noch etwas näher erläutern. Denn bisweilen wird dem Radikalen Konstruktivismus ja der Vorwurf gemacht, er vernachlässige die Welt "da draußen" und stoße damit auch die Weltreferenz ab. Das Wort von der "Blindheit der Systeme" gegenüber ihrer Umwelt umschreibt das, meine ich, recht gut.

Ernst von Glasersfeld: Als "viabel" bezeichne ich Handlungsweisen, Begriffe, Modelle, Theorien usw., die sich in der bisherigen Erfahrung bewährt haben, das heißt, daß sie zu den Zielen geführt haben, die man sich gesetzt hatte. Die Summe dessen, was man als viabel betrachtet, ist gewissermaßen eine Landkarte der möglichen Wege, die wir gehen können. Diese Möglichkeiten haben nichts mit der Nichtzulassung anderer Möglichkeiten zu tun. Paul Watzlawick benützt die schöne Metapher von dem Schiff, das nachts zwischen die Klippen hindurch schippert, aber überhaupt nichts von den Klippen weiß. Maturana nimmt die Metapher vom "Blindflug". Das sind alles sehr schöne Bilder. Daß der Flugzeugpilot im Nebel oder mitten in der Nacht sein Flugzeug zur Landung bringt, weil er den Instrumenten folgt, erzählt ihm nichts darüber, was um das Flugzeug herum ist. Die Umwelt ist überhaupt nicht erkennbar, höchstens Stöße von der Umwelt sind wahrnehmbar. An seinen Instrumenten merkt der Pilot, daß irgendetwas das Flugzeug aus der Flugbahn bringen möchte und er leitet sofort Gegenmaßnahmen ein. Was das ist, kann er aber aus seiner Kabine heraus nie erkennen.

Raum und Körper - was sagen Ihnen diese Begriffe epistemologisch? Können Sie damit etwas anfangen?

Ernst von Glasersfeld: Ich habe in meinem Vortrag gestern versucht, den Begriff des Raumes anzudeuten, und zwar wie er zunächst von den Kindern konstruiert wird. Wenn es von einem Gegenstand, den es jetzt erlebt, annimmt, daß er derselbe (d. h. dasselbe Individuum) ist, das es gestern erlebt hat, dann muß dieser Gegenstand sich irgendwo außerhalb des aktuellen Erfahrungsbereichs aufgehalten haben. Das ist der Anfang der Raumvorstellung. Den Begriff des Körpers habe ich nicht speziell definiert. Im Moment würde ich aber sagen: der Körper fängt zunächst dort an, wo man sich nicht weiterbewegen kann. Der Körper beginnt also mit Widerständen. Es gibt ein sehr schönes Videotape von meinem Freund George Forman. Er hat das bereits vor dreißig Jahren mit Säuglingen gemacht, mit Kindern also, die gerade mit Holzblöcken zu spielen anfangen. Das ist hinreißend. Man sieht ein kleines Kind, das einen roten Block in der linken und einen blauen in der rechten Hand hat. Plötzlich entdeckt es am Tisch einen gelben Block, den es auch haben möchte. Es hat aber noch nicht gelernt, daß es zuerst den blauen Block weglegen muß, bevor es den gelben anfassen kann. Das Kind versucht es mit dem blauen Block, aber es geht nicht. Für mich sind das die Anfänge des Körperbegriffs.

Innen und Außen

Der Radikale Konstruktivismus ist für Sie vor allem eine "Wissenstheorie". Wissen stellt keine Repräsentation ontologischer Wahrheit dar, sondern wird aus dem Erleben des kognitiven Subjekts entwickelt. Wie korrespondiert diese Innensicht mit solchen Ansichten, die das Wissen eher an außersubjektiven Orten wie zum Beispiel Büchern, Bibliotheken, Datenbanken verorten und die Wissen nach anonymen Regelsystemen speichern und übertragen?

Ernst von Glasersfeld: Es verträgt sich nicht mit der Annahme, daß das Wissen in den Bibliotheken sitzt oder die Bedeutung in einem Schriftstück liegt. Man merkt das manchmal an Studenten, wenn man ihnen etwas zu lesen gibt. Sie lesen dann so, als befinde sich der Sinn unter der Druckerschwärze. Das ist natürlich völliger Unsinn. Der Sinn entsteht erst, wenn sie selbst diese Wörter interpretieren, die Sie als Symbole von Lauten, die gemacht wurden, zu erkennen gelernt haben. Sie müssen selbst die Bedeutungen den Wörtern hinzufügen. Die Wörter geben Ihnen ja nicht die Bedeutung. Das war eine meiner Hauptbeschäftigungen, nämlich zu studieren, wie die Bedeutung von Wörtern in Kindern entsteht. Und sie entsteht nur durch die Erfahrung. Die Bedeutung bleibt zeitlebens eine subjektive, die sich mit der Zeit natürlich abschleift, sich manchmal verkleinert, aber auch manchmal in der Interaktion mit anderen Sprechern vergrößert. Das Kind will beispielsweise den Salzstreuer haben, es kann aber nur Tischtuch sagen. Es merkt dann schnell, daß das Wort, das es verwendet, nicht wie erwartet funktioniert. Dann verändert das Kind das Wort, oder versucht ein anderes.

Nun gibt es aber Theorierichtungen, die eher die constraints betonen und das Erleben als Effekt der Artikulationsketten von Sprache und Schrift beschreiben. Die Möglichkeitsräume, die Freiheit des Erlebens, findet somit unter recht eingeschränkten, restriktiven Bedingungen statt.

Ernst von Glasersfeld: Ich bin völlig einverstanden. Natürlich sind da enorme restriktive Bedingungen am Werk. Aber man darf nicht vergessen, daß die Sprache ja auch etwas ist, was das individuelle Subjekt aus der eigenen Erfahrung aufbauen muß. Man kann immer nur hoffen, daß die Bedeutung dessen, was man sagt oder schreibt, einigermaßen kompatibel ist mit den Bedeutungen, die andere Sprachbenützer den verwendeten Wörtern und Sätzen zuschreiben.

Unter Restriktionen verstehe ich beispielsweise die Verwehrung des Zugangs zu den Orten des Wissens. Oder wo, wie es bei Foucault heißt, der Sprecher durch die Ordnung des Diskurses in seinem Erleben oder Handeln konstituiert und strukturiert wird.

Ernst von Glasersfeld: Der Sprecher wird nicht von einer objektiv bereits bestehenden Ordnung strukturiert, er wird vielmehr durch die Ordnung strukturiert, die er sich selbst im Erleben der gegenständlichen Welt und der Sprache aufbaut. Die Ordnung kann ihm nicht gegeben werden. Das verhält sich wie mit einem Stadtplan. Auch ein Stadtplan ist sehr restriktiv. Kommen Sie in einer fremden Stadt an, wissen Sie zunächst überhaupt nichts über sie. Am Abend wollen Sie vielleicht ins Theater gehen. Sie haben eine Idee, wie Sie dorthin gelangen könnten. Sie machen sich auf den Weg. Durch Zufall kommen Sie vielleicht rechtzeitig ins Theater. Mit der Zeit müssen Sie sich den Stadtplan aber im Kopf aufbauen. Natürlich haben Sie gelernt, die Zeichnung des Plans zu interpretieren. Aber auch da sind Sie es, der zumindest die Augen bewegen muß, um im Stadtplan herauszufinden, wohin Sie gehen sollen. Der Stadtplan ist, wie Kant so schön sagt, nur eine begriffliche Occasion. Sie können sich zwar Begriffe formen, aber die Begriffe werden Ihnen nicht gegeben.

Was verstehen Sie unter Macht? Ich frage danach, weil ich mich entsinne, einmal bei Ihnen oder bei einem Ihrer Interpreten etwas von "Machtferne" gelesen zu haben. Konstruktivismus würde etwa heißen, weit entfernt von der Macht zu sein.

Ernst von Glasersfeld: Mir ist nicht klar, was das heißen soll. Maturana hat etwas Wunderschönes über die Macht gesagt. Er sagt: Die Macht entsteht nur, wenn sie zugestanden wird. Die Macht ist nie als solche da, sie verlangt immer das Zugeständnis. Meiner Ansicht nach ist das eine harte Wahrheit. Zugleich ist es aber eine gute Art und Weise, den Begriff der Macht zu erfassen.

Sie würden demnach im Stadtplan, um Ihr Beispiel aufzugreifen, kein Machtsystem orten, das Ihre Wege in gewisser Weise determiniert?

Ernst von Glasersfeld: Will ich mich in der Stadt zurechtfinden, muß ich mir einen Plan von der Stadt machen. Ob ich mir den dadurch mache, indem ich tagelang herumspaziere und mir dabei notiere, wann ich links oder rechts gehe, oder indem ich ein Stück Papier, worauf der Plan gedruckt ist, interpretiere, ist vollkommen gleich. Der Stadtplan besitzt für mich Macht nur dann, wenn ich in der Stadt etwas machen will, wozu ich ihn brauche. Der Stadtplan besitzt aber nicht mehr Macht über mich wie meine Schuhe, in denen ich herumspaziere, weil ich nicht barfuß gehen will.

Realitätsprüfungen

Was verstehen Sie unter Virtualität?

Ernst von Glasersfeld: Virtualität? Virtualität, wie es heute verwendet wird, ist die Vorspiegelung einer Wahrnehmungswelt, die konstruiert ist, aber nicht von dem, der sie erlebt, sondern die absichtlich von außen konstruiert wird als Erlebnis.

Welchen Stellenwert würden Sie dieser Fremdreferenz zuweisen? Denn zwischen Konstruktion und Virtualität, Innengeleitetheit und Außensteuerung, Kognition und Programmierung durch einen Ingenieur besteht doch ein erheblicher Unterschied.

Ernst von Glasersfeld: Bei allen virtuellen Vorstellungen, die ich bisher gesehen habe, habe ich in keinem Moment vergessen, daß sie künstlich produziert wurden. Sollte es morgen tatsächlich gelingen, mir einen Helm aufzusetzen und das Erlebte mit Helm wäre identisch mit dem Erlebten ohne Helm, dann könnte ich nur noch durch das Spüren des Helms mir sagen, das ist eine virtuelle Wirklichkeit. Mit Halluzinationen verhält es sich ähnlich. Visuelle Illusionen sind für Sie völlig wahr, solange Sie keine Gegenproben dafür haben. Der Stock, den Sie ins Wasser stecken, sieht plötzlich im Gegensatz zu den Stöcken außerhalb des Wassers gebrochen aus. Den Unterschied können Sie erst feststellen, wenn Sie mit der Hand am Stock entlang fahren und merken, der hat keinen Knick.

Die Prüfung erfolgt also materiell, durch (Be)Greifen?

Ernst von Glasersfeld: Sinnliche Wahrnehmungen sind doch alle irgendwie materialbestimmt. Sie lassen sich nur durch Gegenbeweise erschüttern. Es gibt einige sinnliche Wahrnehmungen, die komisch sind. Nehmen Sie zum Beispiel den Regenbogen. Wenn Sie im Auto fahren und zugleich das Glück haben, einen schönen Regenbogen zu sehen, sehen Sie, daß er sich nicht wie die Bäume und die Telegrafenstangen bewegt. Er bewegt sich anders in der Landschaft wie alles, was zur Landschaft gehört. Das ist sehr eigenartig. Zum ersten Mal merken Sie, daß der Regenbogen ein optisches Phänomen ist, dessen Ort allein durch den Beobachter bestimmt wird. Er ist anders wie beim Mond. Auch der Mond bewegt sich, wenn sie ihn vom Auto aus sehen, anders wie die Bäume. Der Regenbogen bewegt sich deswegen anders, weil er eine Spiegelung ist. Diese muß von Ihnen gesehen werden. Die Person, die neben Ihnen sitzt, sieht den Regenbogen schon wieder anders.

Den Regenbogen als eine Illusion zu begreifen, die auf Strahlen sitzt, die sich hinter dem Regenbogen befinden, das haben wir vielleicht inzwischen aus Büchern oder vom Hörensagen gelernt. Aber wie ist es mit den Illusionen, die von Software-Designern gemacht werden und bei denen die Schnittstellen zusehens verschwinden? Hier ist eine materielle Prüfung nicht mehr möglich. Ist diese Unterscheidung dann auch noch so zu treffen?

Ernst von Glasersfeld: Wenn Sie mir auf einen Fernseh- oder anderen Bildschirm etwas zeigen, was so konstruiert ist, daß ich es von der visuellen Wirklichkeit nicht unterscheiden kann, dann nehme ich das als visuelle Wirklichkeit.

Dann würden Sie nicht mehr unterscheiden?

Ernst von Glasersfeld: Vielleicht nur noch durch den Kontext. Wie unterscheiden Sie beispielsweise am Morgen, wenn Sie aufwachen und einen Traum gehabt haben? Oft gibt es einen Moment, wo man nicht mehr sicher ist, was Traum und was Wirklichkeit ist? Wie unterscheiden Sie da? — Hat im Traum die Sonne geschienen und Sie sehen aus dem Fenster und es regnet, dann stimmt etwas nicht. So schnell kann sich das Wetter nicht geändert haben. Alle diese Erfahrungsbeziehungen zeigen zum Glück, daß es mit den meisten Illusionen nicht so ist, wie es oft den Anschein hat. Bei Halluzinationen macht das meistens jemand anderer. Mit der Zeit überzeugt er Sie, daß da nichts zu sehen war. Und wenn er sagt, da war nichts, dann meint er, daß andere Leute das nicht gesehen hätten.

Sehen oder Gesehenwerden

Der Konstruktivismus ist eine Theorie der Wahrnehmung. Bislang ist man von menschlichen Beobachtern ausgegangen. Im Zuge der technischen Evolution wird dieser aber allmählich ersetzt durch maschinengeleitetes Sehen. Hybride (Hypertext, Multimedia, Mikroben, autonome AgentenAI, augmented reality) und andere Sehmaschinen übernehmen das Sehen für ihn. Muß man sich im Konstruktivismus nicht mehr Gedanken über die damit verbundenen Konsequenzen für die Wahrnehmung machen, also sich auch mit den technischen Bedingungen und Voraussetzungen dieses Sehens beschäftigen, das anders funktioniert?

Ernst von Glasersfeld: Das sind zum Teil hochinteressante Sachen. Natürlich sollte man sich damit auseinandersetzen. Aber ich kann nicht sehen, was dies prinzipiell mit dem Konstruktivismus zu tun hat.

Verändert sich dadurch nicht die Stellung des Beobachters? Kommt es nicht zu einem Beobachterwechsel, nämlich vom Sehen zum Gesehenwerden?

Ernst von Glasersfeld: Sie müßten mir zuerst eine Maschine zeigen, die etwas macht, was ich beobachten nennen könnte. Nehmen Sie einen solch trivialen Fall wie das Hinausschauen aus dem Fenster. Sie wählen aus einer Unmenge von Möglichkeiten gewisse Dinge aus, weil Sie dafür aus irgendeinem Grund ein besonderes Interesse haben. Sie müssen im übrigen diesen Grund gar nicht wissen. Die Kamera zum Beispiel kann nicht auswählen, sie kann in einem Bild gewisse Dinge als besonders wichtige nicht hervorheben. Der Fotograf muß das mit seinen Tricks machen. Auch das Tonband kann nicht zwischen meinem Husten und dem, was ich sage, unterscheiden. Beobachtende Maschinen müßten aber in der Lage sein, sich von Fall zu Fall und je nach den Umständen auf gewisse Dinge einzustellen. Der Grund für diese Einstellungsänderung müßte letztlich bei Ihnen und in Ihnen liegen. Die Maschine gibt Ihnen aber genau wie das Tonband nur etwas zurück, was Sie anschließend interpretieren müssen.

Immerhin soll es schon Maschinen geben, die sich ihr Ziel selbständig suchen, indem sie Parameter in Form zirkulärer Kausalität in ihre Bewegung hineinrechnen und auf diese Weise ihr Ziel finden. Die Amerikaner sollen über solche intelligente Flug- und Sehmaschinen verfügen. Auch programmierte Computer wie HAL aus Stanley Kubricks 2001 sind nicht mehr unbedingt bloße Science Fiction, die die Umwelt (Flug, Menschen, Aliens etc.) überwachen und zugleich kontrollieren. Andererseits erzeugt gegenwärtig bereits die dritte Generation von Computern die vierte, die wiederum die fünfte Generation generiert und so weiter, weil der Mensch vielfach zu langsam, zu wenig Speicher oder zu wenig Kapazitäten hat.

Ernst von Glasersfeld: Nehmen wir einmal Deep Blue, die Maschine von IBM, die Schach spielt und übermorgen wahrscheinlich alle Schachspieler schlagen wird. Ist sie mit dem menschlichen Schachspieler vergleichbar? Gewiß, insofern man das Schachspielen betrachtet. Diese Fähigkeit wird sie mit der Zeit immer besser ausführen. Aber ist ihr Tun wirklich mit uns vergleichbar? - Meiner Ansicht nach in keinster Weise. Die Maschine hat keine Ahnung, warum das Gewinnen besser als das Verlieren sein sollte. Der Maschine als Maschine ist das völlig gleichgültig, dem Schachspieler aber nicht.

Für das Bewußtsein mag das Gewinnen vielleicht eine Rolle spielen, es fühlt sich dann überlegen, aber nicht für die gestellte Aufgabe, nämlich das Spiel zu gewinnen.

Ernst von Glasersfeld: Für die gestellte Aufgabe mag das letztlich keine Rolle spielen, obwohl die Maschine sicher anders vorgeht als der menschliche Schachspieler. Wenn sie gewinnt, ist sie kompetent. Sie macht das aus Gründen, die aus der Kombinatorik aller möglichen Konstellationen hervorgehen, die sie blitzschnell durchrechnet. Sie weiß aber nicht, was sie macht.

Netzwerkrummel

Wie beurteilen Sie die Entwicklungen der Netzwerktechnologie? Verbindet das Internet die Menschen oder trennt es sie?

Ernst von Glasersfeld: Ich habe keinerlei Ahnung davon. Ich bin nicht im Internet, ich verwende es nicht, ich schreibe keine E-mails.

Doch wenn Sie den Rummel beobachten, der derzeit darum entfacht wird, die Mythen und Utopien, die sich um das Netz ranken? Sie leben ja seit vielen Jahren in Amerika, in Amherst, Massachussetts, wo das Internet die Köpfe berauscht und die Kommunikation, aber noch stärker Arbeitsstruktur und Arbeitsorganisation, vor allem auch an den Universitäten, grundlegend verändert hat.

Ernst von Glasersfeld: Alle Leute haben das. An der Universität ist es inzwischen soweit, daß sogar die Leute, die Tür an Tür arbeiten, sich nicht mehr persönlich unterhalten. Sie sitzen lieber vorm Computer und machen Internet. Meiner Meinung nach ist das eine verheerende Entwicklung. In den Vereinigten Staaten klagt man über den Mangel an social interaction. Das Internet wird diesen Mangel weiter verstärken. Social interaction heißt ja nicht nur Austausch von Wörtern und Sätzen und sogenannten Informationen. Es ist doch noch viel mehr dabei. Treffen wir uns morgen und Sie schauen schlecht aus oder Sie stellen fest, daß ich hinke, ändert das sofort unsere Interaktion. Alle diese persönlichen Kontakte und Interessen, die enorm wichtig sind, um uns als Gesellschaft überhaupt am Leben zu erhalten, fallen im Internet weg.

Was fasziniert die Leute aber dann daran?

Ernst von Glasersfeld: Es sind dies: Bequemlichkeit und Zeitgewinn, denn die Leute haben immer Eile. Sie brauchen nicht mehr genau zu schreiben, die Orthographie wird unwichtig, die äußere Form eines Briefes spielt keine Rolle mehr. Dadurch verliert man eine Menge, z. B. das, was ich Stil nennen würde — und nicht nur Stil im Schreiben! Im Internet wird der Stil auf das niedrigste Niveau reduziert. Die Illustrationen werden plumpe Nachahmungen von Disneyfilmen, die Sprache zum Telegrammstil, und alles, was man Umgangskultur nennen könnte, wird weggelassen, weil der eine oder andere unter den Beteiligten es vielleicht nicht verstehen würde. Es führt zur Anpassung auf dem untersten gemeinsamen Nenner.

Konstruiertes Wissenschaftssystem

Kommen wir zum Schluß noch zu einigen Konsequenzen, die der Konstruktivismus für das Wissenschaftssystem bereithält. "Sachadäquanz" ist im konstruktivistischen Wissenschaftsmodell einem Aushandeln bzw. einem auf Konsens beruhenden Wahrheitsbegriff gewichen. Wie lassen sich so begründete Wahrheiten gegen den Verdacht verteidigen, sie dienten verborgenen Gruppeninteressen.

Ernst von Glasersfeld: Wenn Sie unter "Sachadäquanz" Anpassung an eine objektive Realität verstehen, dann hat es sie nie gegeben. Das Gruppeninteresse war stets, alle anderen zur Annahme der von der Gruppe auserkorenen "Wahrheiten" zu zwingen. Ihre Frage ist letztlich eine ethische Frage. Der Konstruktivismus kann zur Ethik nur das eine beitragen. Für ihn ist es sehr wichtig, eine viable Wirklichkeit zu konstruieren, die auch für andere viabel erscheint. Solange sie nur für mich selbst viabel ist, besteht der begründete Verdacht, daß es sich dabei zum Teil um bloße Illusionen, Halluzinationen oder falsche Vorstellungen handelt.

Vor allem in Amerika wurde dies durch die Differenzpolitiken ethnischer Minderheiten einerseits und die Cultural Studies andererseits virulent, was bekanntlich dort heftige Debatten über den Status von Wissenschaft, über die Geltung von Minimalstandards ausgelöst hat. Die Sokal-Affäre in Amerika und Frankreich haben nachhaltig darauf aufmerksam gemacht. Deswegen nochmals härter gefragt: Ist eine konstruktivistische Relativierung des Wahrheitsbegriffs für das Wissenschaftssystem nicht auf Dauer tödlich?

Ernst von Glasersfeld: Das glaube ich nicht. Man müßte das ausprobieren. Im Gegenteil glaube ich mit Paul Feyerabend: Wenn die Wissenschaft von ihrem Dogmatismus wegkäme, könnte sie viel fruchtbarer sein. Endlich könnte man als Wissenschaftler auch alle jene Gegenstände wissenschaftlich untersuchen, die bisher tabu waren, weil sie außerhalb ihrer Grenzen lagen. Feyerabend hat unter anderem vorgeschlagen, die Behauptungen der Astrologie sachlich zu untersuchen. Und dann wäre da z. B. auch der "placebo-Effekt". Statistische Untersuchungen haben oft gezeigt, daß eine neutrale Zuckerpille, die einer sogenannten Kontrollgruppe als Medizin verabreicht wird, eine heilsame Wirkung hat, die von dem Medikament erwartet wird, das der Versuchsgruppe gegeben wird. Meines Wissens werden aber keine Versuche gemacht, herauszufinden, wieso die bloße Überzeugung, eine Medizin zu nehmen, heilsam wirken kann.

Die Sokal-Affäre zeigt nur die üblichen Mißverständnisse. Sokal hat die Prinzipien des Konstruktivismus nicht erklärt und ihn kurzerhand als falsch hingestellt. Zum Beispiel sagte er, der Konstruktivismus negiere die Realität und somit die Wissenschaft. Das stimmt keineswegs. Alle großen Physiker unseres Jahrhunderts haben - jeder auf seine Weise - gesagt, daß ihre Wissenschaft nicht die Realität beschreibt, sondern unsere Erfahrung von ihr. Die Wissenschaft verliert kein Haar an ihrem Wert oder ihrer Brauchbarkeit, wenn sie konstruktivistisch denkt. Die großen Physiker haben alle in gewisser Weise konstruktivistisch gedacht. Das ist doch alles nichts Neues.