Der Irische Mathemattiker William Rowan Hamilton (1805-1865) war meines Wissens der erste, der das uralte Problem des Zeitbegriffs löste, indem er sagte, der Begriff entstehe dadurch, dass eine Reihenfolge als Grundlage einer anderen gedacht wird (1832). Wittgenstein formulierte dieselbe Idee: “Die Beschreibung zeitlicher Vorgänge wird nur dadurch möglich, dass wir uns auf einen anderen Vorgang stützen” (1933, §6.361). Die Eklärung bedeutet unter anderem, dass die landläufige Vorstellung von Zeit als einem Fluss illusorisch ist. Die Illusion entspringt der unzweifelhaften Erfahrung, dass unser bewusstes Erleben sequentiell ist, d.h. dass wir nie zwei Erlebnisse zugleich haben, sondern stets eines nach dem anderen und dass unser Gedächtnis es möglich macht, Erinnerungen an Vorhergehendes wachzurufen. Der Begriff der Zeit entsteht dann, wenn wir die Vorstellung einer Erlebnisfolge neben eine andere setzten, die wir als Standard betrachten (Foerster, 1967). Angenommen wir gehen ins Kino und erinnern uns beim Kaufen der Eintrittskarte, dass wir hier das letzte Mal einen Bergmannfilm gesehen haben. Wenn wir uns nun vergegenwärtigen, was wir inzwischen getan haben, und die erinnerten Erlebnisse in Tage einteilen, dann können wir den Zwischenraum als Zeit berachten und sagen: Das war vor vier Tagen. Der Zeitbegriff kommt also dadurch zustande, dass wir in den Abstand zweier Erlebnisse die Erlebnisfolge projizieren, die wir nach dem ersten und vor dem zweiten vermerkt haben. Wird die projizierte Erlebnisfolge in periodische Einheiten wie etwa Stunden, Tage oder Monate eingeteilt, so fungiert diese Einteilung als Mass für die “verflossene” Zeit. Voraussetzung dieser Begriffsanalyse ist, dass wir ein Gedächtnis haben, das uns erlaubt, vergangene Erlebnisse in Erinnerung zu rufen, zwischen Erinnerungen Vergleiche anzustellen und konventionnelle Dauereinheiten zur Messung von Erinnerungsfolgen eingeführt haben.
Foerster, H. von (1967) Time amd memory, Annals of the New York Academy of Sciences, 138.
Hamlton, W.R. Manuskript im Trinity College, Dublin; Box VI, 2, April 1832.
Wittgenstein, L. (1933) Tractatus logico-philosophicus. London.
Copyright: Der Beitrag erscheint in "Das Große Lexikon Medien und Kommunikation" herausgeben von Leon R. Tsvasman. © 2006 Ergon-Verlag Dr. H.-J. Dietrich, Würzburg, Germany.
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Created 2003 by Alexander Riegler · Last update: 1 Dec 2018 |